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Werkbesprechungen

 

W. A. Mozart

Requiem

Eine einführende Betrachtung

1) In den Abendstunden des 15. Dezember 1771 kehrte der 15jährige fürsterzbischöfliche Konzertmeister Wolfgang Amadé Mozart von seiner erfolgreichen zweiten Italien-Reise nach Salzburg zurück; am 17. Oktober war in Mailand sein Ascanio in Alba (KV 111) überaus erfolgreich in Szene gegangen. Einen Tag später, am 16.Dezember, starb Fürsterzbischof Sigismund Graf Schrattenbach - zweifelsohne ein schwerer Verlust für Ruperts Landeskinder, eine Hiobsbotschaft zumal in Salzburgs Künstler- und Musikergilden, für die unter seinem Krummstab allemal gut leben war. Allein, Vater Leopold mochte im Hinblick auf die prekäre Finanzlage, welche der prunkliebende Kirchenfürst seinem Bistum als Erbe hinterließ, in diesen Adventstagen mit gemischten Gefühlen erahnen, daß ein neuer Mann an der Spitze des Erzstiftes im Interesse aller einem wohl deutlich sparsameren Wirtschaftskurs würde entgegensteuern müssen, was sich an Hieronymus Graf Colloredos (1732-1812) scharfprofilierter Gangart dann auch kunstpolitisch folgenschwer bewahrheiten sollte, wobei freilich betont sei, daß dessen Ära streng aufgeklärter Geisteshaltung den hervorragendsten schöpferischen Musikerpersönlichkeiten an der Salzach - gerade im Hinblick auf deren sakrales Schaffen - zwar eine ideologisch radikale Neuorientierung in Richtung Zucht und Zähmung abverlangte, daraus resultierend jedoch letztlich Positives, ja Hochbedeutsames zeitigen half: die polytexturfreie Missa brevis und die tagestextbezogene Gradualmotette etwa sind spezifische Salzburger Kunstformen, die ohne Colloredos strikte Verordnungen wohl kaum so reichlich bedacht worden und zu solch qualitativer Meisterschaft herangereift wären.

Den jungen Wolfgang indes tangierte das Ableben des Landesfürsten vorläufig nur peripher, gerade in kompositorischer Hinsicht - war doch für das Schreiben einer solennen Totenmesse ohnehin Michael Haydn (1737-1806) zuständig; er selbst nutzte die weihnachtliche Zeit lieber für das Schreiben einer neuen fröhlichen Symphonie, (in A, KV 114), die seinem unbekümmerten Teenager-Naturell allemal mehr denn ein trauriges Seelenamt anstand.

Haydn aber, damals 34jähriger fürsterzbischöflicher Konzertmeister, zumal als Kirchenkomponist von den Mozarts zeitlebens hochgeschätzt, kam aus dem Schreiben nicht heraus: zwei Tage zuvor (am 14.Dezember) hatte er erst eine umfangreiche Messenpartitur fertiggestellt (die erweiterte Zweitfassung seiner eigenen Missa Sancti Nicolai MH 154); nun galt es, ein feierliches Requiem für seinen heimgegangenen Brotgeber zu schaffen. Und just dieses noch am Silvestertag 1771 fertiggestellte, nachmalig "Schrattenbach-Requiem" benannte Werk (MH 155) markiert als wirklicher Wurf nicht nur einen entscheidenden Entwicklungsschritt in Haydns eigener kirchenkompositorischer Stilfindung, es ist als eines der bedeutendsten Kirchenwerke der Salzburgischen Kirchenmusiktradition überhaupt anzusprechen und repräsentiert die erste Missa pro Defunctis im tonsprachlichen Idiom des Wiener Klassischen Stils, dessen Durchbildung auf Salzburger Boden wir ja Michael Haydn zu verdanken haben. Als im darauffolgenden Jänner zu den Trauerfeierlichkeiten im Salzburger Dom Haydns Seelenmesse erklang und die Mozarts als Mitglieder der Hofkapelle an der Aufführung beteiligt waren, dürfte dem knapp 16jährigen klar aufgegangen sein: an diesem Werk war nicht achtlos vorüberzugehen - vielmehr war hier eingehendes Studium angesagt, intensive Auseinandersetzung gefordert, wie später noch mehrfach, wenn der "alte" Haydn - aus der Sicht Wolfgangs war er dies stets - eine neue Kirchenpartitur vorgelegt hat.

 

2. Genau 20 Jahre später war Mozart tot. Weihnachten 1791 sollte er nicht mehr erleben - er starb in der Nacht des 5.Dezember. Aber ab dem Sommer 1791 hatte der 35jährige - im übrigen nun gleichen Alters wie sein Kollege Michael Haydn zur Zeit des Schrattenbach-Requiems - noch Gelegenheit, selbst eine Totenmesse zu beginnen, die sich denn auch bis in kompositorische Einzelheiten hinein von Haydns c-moll-Werk beeinflußt zeigt, und nicht nur von diesem: schon Franz Kosch (StMw XIV, 1927, S.213-240, bes. S.238f.) und Robert Haas ("Mozart", 1950, S.155f.) haben auf den deutlichen Einfluß des c-moll-Requiemfragments (DTÖ 83) von Florian Leopold Gaßmann (1729-1774) hingewiesen. Constantin Floros hat 1964 in seiner Rede "Mozart und die österreichische Überlieferung der Kirchenmusik" (gehalten auf dem Kongreß der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft in Salzburg, erweitert abgedruckt in: Constantin Floros: Mozart-Studien I, Wiesbaden 1979, S.131-150) die Mustergültigkeit der Kirchenmusik Michael Haydns für Mozart insgesamt anhand anschaulicher Beispielvergleiche exemplifiziert und darüberhinaus die verschiedenerlei Vorbildwirkungen der bereits 1734 komponierten Missa Sancti Caroli bzw. des 1753 entstandenen c-moll-Requiems (beide DTÖ 88) von Johann Georg Reutter d.J. (1708-1772)  für Mozarts Totenmesse im speziellen aufgezeigt. In neuerer Zeit gelang Hartmut Krones in dem bemerkenswerten Aufsatz "Ein französisches Vorbild für Mozarts Requiem. Die 'Messe des Morts' von Francois-Joseph Gossec [1734-1829]" (in: Österreichische Musikzeitschrift 42 [1987], S.2-17) der Nachweis erstaunlicher Parallelen zu der 1760 geschaffenen Totenmesse dieses interessanten Frühklassikers. Unzweifelhafte Detailmuster für das Requiem haben ferner Georg Friedrich Händels Funeral Anthem for Queen Caroline von 1737 (HWV 264) und Dettingen Anthem von 1743 (HWV 265) abgegeben, die Mozart über Gottfried Freiherr van Swietens (1733-1803) illustren Wiener musikalischen Zirkel kennengelernt hat.

Nun zeigt ja die Kirchenmusik - und nicht nur die Mozarts - stets ein besonderes Nahverhältnis zur Tradition, und aus dieser Grundgegebenheit heraus erscheinen wissenschaftliche Beobachtungen der aufgelisteten Art, auch wenn sie immerhin schon vor Jahrzehnten angestellt wurden - für's erste nicht einmal besonders spektakulär.- Fraglos begegnet man gerade im Requiem neben Sätzen sehr persönlicher Tonsprache auch bewußt archaisierenden Partien. Schon der Beginn des Introitus, so individuell er gestaltet ist, bedient sich mit seiner Fugato-Imitation eines Sekundschritt-Motivs alter Vorlagenmuster; das Hauptthema der Kyrie-Fuge, von späteren Musikwissenschaftler-Generationen als "Hymnen-Typus" klassifiziert, weist mit seinem charakteristischen verminderten Septimsprung eine weit zurückreichende Genealogie auf (bekannt aus barocker Zeit etwa das fis-moll-Orgelfugen-Thema Buxtehudes, die f-moll-Chorfuge "And with His stripes we are healed" aus Händels Messiah oder das "Thema Regium" aus Bachs Musikalischem Opfer). Im Salzburger Umfeld ist es Michael Haydn, der den Hymnen-Typus markanten Chorfugen zugrundelegt: etwa der "Cum Sanctis tuis"-Fuge des Schrattenbach-Requiems, oder der "Pignus futurae gloriae"-Fuge aus der großen g-moll-Sakramentslitanei vom März 1776 (MH 228), die Mozart überhaupt mehrfache Anregungen bot. Ja, Wolfgang zitiert sich mit diesem Thementypus sogar selbt, indem er auf die (ihrerseits an Haydns "Pignus"-Fuge orientierte) "Laudate pueri"-Fuge aus seinen Vesperae solennes de Confessore von 1780 (KV 339) zurückgreift. Die ganze Kyrie-Fuge vermittelt trotz aller antikonservativen harmonischen Ausweitungen einen deutlichen Hang zu in sich ruhender, barocker Statuarik, was kirchenmusikpsychologisch immer günstige Folgen hat: fällt doch solch vorgeprägtem musikalischem Idiom in seinem gleichsam herausgehobenen, abgesicherten Sprachduktus von vornherein ein gerüttelt Maß an affirmativer Funktion zu. Dasselbe gilt etwa auch von den alterprobten Septakkord-Sequenzketten im "Rex tremendae"-Satz sowie von der durchweg barockes Satzdessin aufweisenden "Quam olim Abrahae"-Fuge, deren Chroma mehr auf objektivierend-modalem Grund denn auf moderner Ausdrucksgestik fußt und deren im besten Sinn altväterische Begleit-Ostinati "wie anno dazumal" die klammerartige Einheit des "musikalischen Affekts" besorgen.

Und doch bleibt trotz aller konzeptuellen Retrospektion - dies geht auch aus dem zitierten Schrifttum klar hervor - ein ganz und gar neuartiges, inkommensurables Kunstwerk zu bestaunen, erwachsen aus der enormen Fähigkeit Mozarts, Fremdeinflüsse und gedankliches Eigengut bruchlos ineins zu fassen.

Gerade im Requiem überschneiden einander im direkten musikalischen Verlauf einzelner Sätze sakrale Archaik und eine beinahe schon außerkirchliche Subjektivität, die Mozart bislang (etwa in der genannten Bekenner-Vesper oder, mehr noch, in der c-moll-Messe) nur abschnittweise gegeneinanderzustellen wagte. Wir sind hier vor ein Opus gestellt, in dem die geistigen Schnittpunkte auch Außermusikalisches ganz konkret berühren: so sind in dieses Seelenamt jenseits aller rückwärtsschauenden Elemente - gleichsam als aufschließende Gegenkräfte - etwa die (von Mozart selbst entwickelten) musikalischen Symbole der Freimaurerei eingegangen als Klang und Sprache eines neuen, rationalistischen Humanitätsideals. Hingewiesen sei nur auf die auffällig dunklen Bläserfarben zu Beginn (Bassetthörner/Fagotte), die "brüderlichen" Sechzehntelbindungen bei "Dona eis" oder den dreimaligen "Rex"-Ausruf, der mit dem dreimaligen Anklopfen und Einlaßbegehren der Maurer korrespondiert. Daneben sind all die punktierten Rhythmen (etwa bei "Exaudi") weniger Ausdruck frommer Unterwürfigkeit als vielmehr ein Manifestwerden subjektiv-aufgeklärter Provokation. Ja, eine ganze Expressivitätsskala ließe sich entwerfen vom kraftstrotzenden "Dies irae"-Chor bis zu der schwebenden Transparenz des solistischen "Recordare", eine Skala freilich auch wechselnder stilistischer Ingredienzien, die solche unterschiedlichen Konstellationen des Ausdrucks bewirken. In dieser emotionalen Vielfalt finden wir nicht zuletzt Mozarts eigene, diffizil und ungeradlinig disponierte Religiosität widergespiegelt, in der väterlicherseits ererbte Demut und eigener Fatalismus, anerzogene Glaubensstrenge und maurerische Liberalität einander begegnen, durchdringen und überlagern. Diese ethisch-religiöse Maximenmixtur findet ihr Äquivalent in Mozarts spezifischer Tonsprache, die nicht radikalisieren, schon gar nicht umsturzwütig sein will, vielmehr Überkommenes aller Seiten aufnimmt, um es mit dem Wesensgrund einer eigenen, großen Seele zu überschatten. (Siehe Abschnitt 6.)

 

3. Die zeitliche Distanz von mehr als 200 Jahren, die es uns heute ermöglicht, historische und psychologische Gegebenheiten rund um das Requiem musikwissenschaftlich exakt zu benennen, fehlte den ersten Nachfolgegenerationen, deren Epoche sich ohnehin in mystischen Schleierfarbtönen gefiel, und für die der Schwanengesang eines Genies - der noch dazu unvollendet blieb - natürlich ein willkommenes Objekt der Verunklarungen und Legendenranken bildete, aber auch konkrete sachliche Kontroversen (etwa den von Gottfried Weber 1825 entfachten "Requiem-Streit") heraufbeschwor. Dennoch hat die hinsichtlich des Requiems um zunehmende Klarheit der Sachverhaltsdarstellung bemühte Biedermeierzeit an der schrittweisen Aufhellung der Zusammenhänge schon gehörigen Anteil (vgl. etwa den erst Anfang der 1960er Jahre wiederaufgefundenen umfangreichen schriftlichen Bericht des Wiener Neustädter Schulmeisters und Chorregenten Anton Herzog von 1839), und die, die da glaubten, eine geheimnisumwobene Requiem-Aura jeglichen Erkenntnisfortschritten zum Trotz bis ins 20.Jahrhundert herein aufrechterhalten zu müssen, waren im Grunde nur jene unverbesserlichen Romantiker, die alle redlichen Aufklärungsbemühungen aus image-gepflegter Blauäugigkeit heraus nicht zur Kenntnis nehmen wollten, deren wahrheitsverfälschende Erzeugnisse (etwa Hans Watzliks seinerzeit beliebter Mozart-Roman "Die Krönungsoper" von 1935 oder die zahllosen "Wolferl"-Filme, welche allerlei unerträgliche Kitschzerrbilder lieferten) jedoch das bürgerliche Mozart-Bild im ganzen empfindlich stärker geprägt haben als die seriöse Literatur.

Mitterweile scheint die romantisierende Schauerverbrämung dieses KV 626, in der man sich lange gefiel, weitgehend überwunden zu sein und berührt aus heutiger Sicht nicht zuletzt deshalb merkwürdig, weil die genaueren Entstehungshintergründe des Werkes ja schon um 1800 einigermaßen erhellt waren. Man weiß im Grunde seit eh und je, daß es der auf Schloß Stuppach am Semmering residierende Franz Graf von Walsegg (1763-1827) war, der als komponierender Dilettant gern fähige "Ghostwriter" engagierte, um deren für ihn geschaffene Werke feinsäuberlich abschreibend als seine eigenen auszugeben und damit in privaten Kreisen Aufsehen zu erregen. Und 50 Dukaten versprach ein Bote Walseggs (wahrscheinlich ein Kanzlist seines Wiener Rechtsanwalts Johann Nepomuk Sortschan) Mozart im Sommer 1791 (vielleicht schon im Juni? - der genaue Zeitpunkt der Unterredung läßt sich nicht mehr eruieren) für ein Requiem, das der Graf im Gedenken an seine am 14.Februar 1791 in jugendlichem Alter verstorbene Frau Anna, geb. von Flammberg (1770-1791), in liturgischem Rahmen einer Seelenmesse aufzuführen gedachte. Mozart steckte in beträchtlichen Schulden, hatte jeglichen finanziellen Zuschuß bitter nötig und widmete den drei dankbar übernommenen, ziemlich gleichzeitig eingelangten Aufträgen Zauberflöte, Titus und Requiem seine ganze Aufmerksamkeit und Sorgfalt, manchmal mehr, als seine schon angegriffene Gesundheit es erlaubte. Und eben dieser Aspekt des Geldverdienens ist es, dem nun stärker denn je existentielle Bedeutung zukommt! "... ich will arbeiten - so arbeiten - um damit ich durch unvermuthete Zufälle nicht wieder in so eine fatale Lage komme ..." - so schreibt er am 28.September 1790 aus Frankfurt an seine Frau (hier zitiert nach: Wolfgang Amadeus Mozart - Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Stefan Kunze, Stuttgart 1987, S.399); ähnliches liest man auch in späteren Briefen. Immer wieder bleibt der geäußerte Wunsch, "fleissig arbeiten", "blos arbeiten" zu können, mit konkreten Überlegungen zur Bekämpfung der finanziellen Misere verbunden. Komponieren war für ihn, gerade in dieser heiklen Lebensphase, gleichbedeutend mit Geldverdienen, und es gibt keinen Anlaß, dieses Faktum, unter dem Mozart litt, das ihn auch gehörig irritierte, mit salbungsvollem Künstlerroman-Vokabular wegzupoetisieren. Und wieder sind wir bei der Romantik: vom beharrlich kolportierten Klischee eines durch angebliche Todesvorahnungen getriebenen fieberhaften Schaffensrausches im vermeintlichen Angesicht des nahen Todes kann auch angesichts der enormen Produktivität 1791 nicht die Rede sein. Wie gesagt: den drei großen Aufträgen gehört seine ganze Konzentration - nicht mehr und nicht weniger. Verbrämungen also doch noch nicht überwunden? Wir müssen uns selbst korrigieren: Mozart'sche Zuckergußvignetten geistern nach wie vor in vielen Köpfen herum: breitgefächert ist die umspinnende Mythenbildung, die Mozarts "letztes Jahr", "letztes Konzert", "letztes Werk" evozierten. Doch das alles sollte unseren Blick nicht trüben. Seine ungemein energetische, lebensprühende Musik ist es ja selbst, die sich solchen Unklarheiten, solchem heroenbiographisch-hermeneutischen Zurechtschneidern und Anpassen einer talmi-schillernden Patina widersetzt.

Gerade der Schaffensprozeß der Totenmesse lief ja - im Grunde ganz nüchtern - neben den beiden riesigen Opernprojekten einher, mußte verständlicherweise immer wieder für Wochen eingestellt werden und kann sich letztlich nur in drei Arbeitsetappen vollzogen haben: die erste Phase der Auseinandersetzung wird gleich nach der Unterredung mit dem "Boten", etwa Juni/Anfang Juli erfolgt sein, ehe im Hochsommer dann Zauberflöte und Titus sozusagen akut wurden. Auch der September, nach der Prager Aufführung des Titus am 6., kommt für die Arbeit am Requiem kaum in Betracht, da die bevorstehende Uraufführung der Zauberflöte am 30. Mozarts ganze Zuwendung gefordert haben wird. Und Anfang Oktober entstand noch obendrein das Klarinettenkonzert (KV 622). Als zweiter Schaffensschub kommt demnach erst wieder die zweite Oktoberhälfte und der Novemberbeginn in Frage, ehe sich Mozart mit einer Kleinen Freimaurerkantate (KV 623) beschäftigt, die er am 15.November als letztes vollendetes Werk in sein privates "Verzeichnüß" einträgt. Eine dritte Zeitspanne der Niederschrift hat sich wohl nur noch auf die folgenden fünf Novembertage konzentriert, da Mozarts gesundheitlicher Zusammenbruch, der ihn dann endgültig ans Bett fesselt, am 20.November einsetzt. Die letzten ihm noch verbleibenden Tage bis zu seinem Tod am 5.Dezember wird er wohl, soweit möglich, für intensive Besprechungen mit Franz Xaver Süßmayr (über ihn siehe unten, Abschnitt 4) genutzt haben. Wir können davon ausgehen, daß so manches vom Meister nicht mehr schriftlich fixierte Detail dennoch in die Ausarbeitung des Werkes eingeflossen ist.

 

4. Für die verwitwete Constanze Mozart (1763-1842) stand es von vornherein außer Frage, das Requiem vollenden zu lassen. Andernfalls hätte sie die vorausbezahlten 50 Dukaten dem Grafen zurückerstatten müssen - und das war aus ihrer finanziell prekären Situation heraus unmöglich. Der lebenslustige Gatte hatte seiner Familie einen Schuldenberg von 3000 Gulden hinterlassen, dem ein Barerlag von 50 Gulden gegenüberstand. (Auf heutige Währung umgemünzt entsprach ein Gulden etwa S 280.-.) So wandte sie sich an kompetente Schüler und Freunde aus dem engsten Kreis ihres Mannes, die sie mit der Fortsetzung der Partitur betraute.

Der erste, der das überkommene Fragment gleich nach Mozarts Tod mit eigenen Eintragungen bedachte, war Mozarts Schüler Franz Jakob Freystädtler (geb. am 13.9.1761 in Salzburg, gest. 1841 in Wien), und zwar anläßlich einer allerersten behelfsmäßigen Teilaufführung im Rahmen feierlicher Exequien für Mozart, die, wie Walther Brauneis nachgewiesen hat (in: Mitteilungen der Internationalen Stiftung Mozarteum 1991, S.165-168; ders. in: Singende Kirche Jg.37, 1991, Heft 1, S.8-11), von den Direktoren des Wiener Theaters initiiert, am 10.Dezember 1791 in der Wiener Michaelerkirche abgehalten wurden. Freystädtler nutzte also die Zeitspanne zwischen dem 5. und 10.Dezember, um die Kyrie-Fuge so weit instrumental (colla parte) einzurichten, daß wenigstens Introitus samt Kyrie in voller Besetzung (jedoch ohne Trompeten und Pauken) liturgisch aufgeführt werden konnten. Die restlichen Teile dürften in diesem Gottesdienst, soweit im Vokalsatz vollendet, mit Orgelbegleitung dargeboten worden sein.

In weiterer Folge gelang es Constanze, Joseph Eybler (geb. am 8.2.1765 in Schwechat, gest. am 24.7.1846 in Wien), seinerseits ebenfalls Schüler Mozarts und nachmaliger Hofkapellmeister, sowie Abbé Maximilian Stadler (geb. am 4.8.1748 in Melk, gest. am 8.11.1833 in Wien) für Ergänzungsarbeiten zu gewinnen. (Ob Stadler von Constanze dezidiert beauftragt wurde oder sich aus eigenem Antrieb der Ergänzerriege beigesellte, bleibt ungewiß.) Der Hauptanteil an der Fertigstellung fiel aber dem schon erwähnten, aus Schwanenstadt in Oberösterreich gebürtigen Franz Xaver Süßmayr (geb. 1766, gest. am 17.9.1803 in Wien) zu, der schon seit 1790 Schüler, vertrauter Freund und ständiger Adlatus Mozarts gewesen war und von daher vor allen anderen in Frage kam, die schwierige Aufgabe der Werkkomplettierung vorzunehmen.

Die beiden Primärquellen des Werkes führen die einzelnen Arbeitsgänge der Partiturerstellung klar vor Augen:

Das Requiem ist in zwei auf das Engste mit einander verbundenen Partiturmanuskripten überliefert, welche die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien unter den Signaturen Mus.Hs.17561a (Teil I) bzw. Mus.Hs.17561b (Teil II) verwahrt.

Teil I enthält das vollständige Requiem, so wie es heute weltweit bekannt und trotz mancher Kritik an den vorgenommenen Ergänzungen verbreitet ist. Für dieses Manuskript hat sich der Name "Ablieferungspartitur" eingebürgert, weil diese Handschrift es war, die Constanze Mozart im Lauf der Fastenzeit 1792 an Graf Walsegg vereinbarungsgemäß übergab. Der Introitus hierin ist zur Gänze von Mozart geschrieben. Die Kyrie-Fuge zeigt in Singstimmen und Generalbaß Mozarts Handschrift, die colla parte-Ausfüllung von Violino I-, Violino II-, Viola-, Bassetthorn- und Fagottsystem, also eine rein mechanische Abschreibarbeit, besorgte Freystädtler (s.o.), Trompeten und Pauken in der Kyrie-Fuge sind aber bereits von Süßmayr hinzugesetzt und in die Partitur eingetragen. Ab dem "Dies irae" findet sich dann durchgehend Süßmayrs Handschrift vor.

Teil II, die sogenannte "Arbeitspartitur", bildete ursprünglich die unmittelbare Fortsetzung des Werkes nach der Kyrie-Fuge und beinhaltet Mozarts Niederschrift aller weiteren Teile ab dem "Dies irae", soweit sie von ihm in einem mehr oder weniger fragmentarischen Zustand hinterlassen worden sind. Zusätzlich überliefert dieses Manuskript eine vollständige Instrumentierung der Sequenz exclusive "Lacrimosa" von der Hand Eyblers, geradenwegs eingetragen in die von Mozart über dem Chorsystem jeweils leergelassenen Notenzeilen. Eyblers Versuch, auch noch das unvollendete "Lacrimosa" fortzusetzen, kam indes über zwei Sopran-Takte nicht hinaus. Seine Instrumentierung zeigt sich im ganzen profilierter (in ihrer betont obligaten Anlage aber auch stärker romantisch, mithin "un-mozartischer") als die Süßmayrs, wenngleich schriftästhetisch zu bemängeln bleibt, daß seine teils unschön hingeworfenen, kantig-steifen Eintragungen samt einigen energischen Streichungen über Mozarts elegant gefaßten Chorakkoladen das Gesamtschriftbild der Partitur insgesamt störend beeinflußt haben.

Stadler, der das Offertorium als erster instrumentierte, war vorsichtiger im Umgang mit Mozarts wertvollem Manuskript, das er mit weiteren Fremdeintragungen verschonte: er schrieb auf neuem Papier die Fragmente zu diesem Abschnitt, soweit erhalten, vorerst feinsäuberlich ab und erstellte darauf aufbauend seinen Orchestersatz. Diese Separatpartitur Stadlers liegt heute ebenfalls in der Österreichischen Nationalbibliothek und trägt die Signatur Mus.Ms.4375. So ist in der "Arbeitspartitur" ab dem "Domine Jesu Christe" bis zum "transire ad vitam" einschließlich des Verweises "quam olim da capo" Mozarts Autograph im Schriftbild ungestört überliefert.

Süßmayr erstellte nun auf Grundlage der Vorarbeiten Eyblers und Stadlers eine eigene Instrumentierung der Sequenz und des Offertoriums, ergänzte das "Lacrimosa", schuf die Sätze Sanctus, Benedictus und Agnus Dei neu (wie weit er hier aus Skizzen oder persönlichen Hinweisen Mozarts schöpfen konnte, bleibt trotz verschiedentlicher diesbezüglicher Andeutungen in überlieferten Dokumenten und wissenschaftlicher Spekulationen letztlich uneruierbar) und verwendete für die Communio die Musik Mozarts aus Introitus und Kyrie, wobei zumindest die Wiederholung der Fuge mit Unterlegung der Worte "Cum sanctis tuis in aeternum" auf einen mündlichen Austausch zwischen Mozart und Süßmayr gründen dürfte. In der Kyrie-Fuge selbst verblieb Süßmayr noch, wie erwähnt, die Ergänzung der Trompeten und Pauken; die anderen Instrumente hatte ja schon Freystädtler kurz nach Mozarts Tod in die Partitur eingetragen (s.o.).

Ab dem "Dies irae" galt es nun, alles neu zu schreiben, und zwar in einem (für den Besteller eindeutigen, daher) Mozart möglichst ähnlichem Schriftbild, und die fertige Partitur mit Mozarts Introitus-Kyrie-Autograph zu einem neuen Handschriftenkomplex zu vereinen. Constanze erhielt mit dieser Manuskriptmixtur ihr glaubwürdiges, vermeintlich von Mozart allein geschriebenes "Ablieferungsexemplar", mit dem Graf Walsegg wohl zufrieden sein konnte.

Dieser führte das Requiem dann auch tatsächlich auf, genauerhin am 14.Dezember 1793 in der Neuklosterkirche zu Wiener Neustadt, gemäß der liturgischen Bestimmung als Seelenmesse für seine auf den Tag vor 2 Jahren und 10 Monaten verstorbene Frau nach einer eigens angefertigten Partiturabschrift mit der Autorenangabe "Fr. C[omte]. de Wallsegg". Die Uraufführung des Werkes hatte jedoch schon zu Beginn des Jahres, am 2.Jänner 1793 - wahrscheinlich ohne Wissen des Grafen - im Jahn-Saal zu Wien stattgefunden, und zwar im Rahmen eines durch Gottfried van Swieten veranstalteten Benefizkonzertes zugunsten von Mozarts Witwe und ihrer beiden Söhne.

Franz Xaver Süßmayr legte in einem aufschlußreichen Brief an den Leipziger Verlag Breitkopf vom 8.Februar 1800 genaue Rechenschaft über seinen Anteil an der Ergänzungsarbeit ab. Er stellt darin seine Mitarbeit bescheidenerweise als Mozarts Namens "unwürdig" dar. Seinen Ausführungen zufolge beauftragte Constanze Mozart zuvor "mehrere Meister" mit der Fertigstellung, die jedoch aus verschiedenen Gründen die Arbeiten nicht übernehmen konnten bzw. "ihr Talent nicht mit demjenigen Mozarts compromittiren" wollten. Die Reihe sei schließlich an ihn gekommen, der während der letzten Lebenswochen Mozarts das Requiem häufig mit dem Komponisten durchgespielt und durchgesungen, wobei der Meister sich mit ihm "über die Ausarbeitung dieses Werkes sehr oft besprochen" und ihm "den Gang und die Gründe seiner Instrumentirung mitgetheilt", auch "hin und wieder" ein instrumentales "Motivum angezeigt" habe. Diesem Brief Süßmayrs kommt als wichtigstem und verläßlichstem Dokument seiner Requiem-Beteiligung in Anbetracht seines frühen Todes - er starb schon im September 1803 - gleichsam testamentarisches Gewicht zu. Die erste Drucklegung des Requiems durch Breitkopf&Härtel im Frühjahr 1800 (wiewohl nicht nach dem Originalmanuskript!) durfte er jedenfalls noch erleben.

Nachstehende Tabelle (aus: Chrisoph Wolff, Mozarts Requiem, Kassel 1991, S.74) gebe einen knapp zusammengefaßten Werküberblick:

5. Ein Hauptmerkmal großer klassischer Kirchenmusik bleibt immer wieder die staunenswerte theologisch-aszetische Ausschöpfung der zugrundeliegenden liturgischen Texte bei Wahrung eines knappbemessenen Formrahmens, der die Werke trotz ihres hohen künstlerischen Anspruchs allesamt liturgiefähig macht, was gerade auch für KV 626 zutrifft, das bis auf unsere Tage nicht selten während des Gottesdienstes erklingt. Im folgenden sei eine kleine, exemplarisch illustrierte Werkbetrachtung versucht:

Dem einleitenden Bittruf um ewige Ruhe, mit dem die katholische Totenmesse anhebt, verleiht Mozart im Eröffnungssatz, imitatorisch Stimme auf Stimme bauend, ergreifende Töne inbrünstigen Flehens (1). Die Festigkeit, in der die Stimmen zusammenfinden, ist zugleich ein überzeugendes Bekenntnis zur Existenz des ewigen Lichts ("et lux perpetua") (2). Ein dem solistischen "Te decet hymnus" (Zitat des "Tonus peregrinus" genannten 9.Psalmtons) (3) beigegebenes Streichermotiv wirkt als kontrapunktische Gegenstimme in die Reprise des Introitus-Chores hinein, der von einer meisterhaft gearbeiteten Doppelfuge (4) gekrönt wird, die in ihrer diffizilen und doch so ausgewogen klar gefaßten Linearstruktur zweifellos zu den kostbarsten polyphonen Arbeiten Mozarts gehört.

Die musikalische Ausdeutung der erschütternden Vision des letzten Gerichts (mittelalterliche, dem italienischen Franziskaner Thomas von Celano zugeschriebene Totensequenz "Dies irae") hebt mit niederschmetternder Wucht an: der "Tag des Zornes" bricht urgewaltig über die vor dem Richterspruch Gottes zitternde Menschheit herein (5) (6) (7). Die feierliche Dreiklangsmelodik des posaunenunterstützten Baßsolos "Tuba mirum" (8) erscheint bereits in der zweiten Sequenzstrophe motivisch vorgebildet (6). Schnerich schreibt über dieses "Tuba mirum" ein wenig gelehrsamkeitsschnoddrig, dabei im Kern nicht unzutreffend: "Die nun ertönende Tenor-Posaune bewirkt mehr als alles Geblase von Berlioz oder Verdi, ist freilich auch nicht nachzuahmen." (Alfred Schnerich: Messe und Requiem seit Haydn und Mozart, Wien-Leipzig 1909, S.54) Die schreckenzeugende Majestät des obersten Richters findet in massiver Chor-Orchesterballung ("Rex tremendae majestatis") (9) ebenso überzeugenden Ausdruck wie die innig-schlichte Anrufung des leidenden Heilands durch ein verhaltenes Soloquartett ("Recordare") (10). In ähnlich eindrucksvollem Kontrast treffen im "Confutatis"-Satz eherne Härte unerbittlicher Verdammnis (Männerchor über rhythmisch markanten Baß-Ostinati) (11) und demütige Gnadenbitte (Frauenchor bei "voca me") (12) aufeinander, bevor das ergreifende "Lacrimosa" mit versöhnlichem Durausklang die Macht gläubigen Hoffens ahnen läßt (13). Gerade dieser berühmte Sequenzschluß reicht urschriftlich im Vokalpart nur bis Takt 8 (instrumental gar nur bis Takt 2) und ist ab dem 9.Takt von Süßmayr allemal grandios ergänzt, wenngleich anstelle eines von Mozart offensichtlich geplanten Schlußfugatos (diesbezügliche Berliner Skizzen sind überliefert) eine einfache Plagalkadenz gestellt ist, weil sich der Schüler einer eigenmächtigen Fortspinnung polyphoner Verlaufsskizzen des Meisters anscheinend doch nicht gewachsen fühlte.

Das Offertorium "Domine Jesu Christe" zeigt sich in seiner harmonischen Dichte, seinem orchestralen Klangdessin und seiner melodisch-satztechnischen Bewegtheit ausgesprochen dramatisch durchpulst (14); gerade in seiner Mittelpartie scheinen die Schrecken des Weltgerichts noch einmal nachzuzittern (15), ehe sie die Lichtgestalt des Erzengels Michael vergessen macht (Soloquartett-Fugato) (16). Wie hier das anschließende, fugierte "Quam olim Abrahae" (17), nach dem liedhaften, spürbar M.Haydn'schen Geist atmenden "Hostias" (18) wiederkehrend, diese beiden (zusammen das Offertorium bildenden) Teile auch musikalisch vereint, so dokumentieren das feierliche Sanctus (19) und das lieblich-zarte Benedictus (21) - hier nimmt ein zweimaliger Instrumentaleinschub (22) deutlich auf das Kyrie Bezug - durch das gemeinsame Osanna-Fugato (20) ihren liturgischen Zusammenhang. Beide Sätze sind zur Gänze von Süßmayr komponiert und erweisen sich dem Requiem insgesamt als durchaus würdig, wenngleich die befremdende Wiederholung des D-Dur-Osanna in B-Dur am Ende des Benedictus formaltechnisch nicht zu überzeugen vermag. Der Modulationscharakter der überleitenden Sequenzfigur (Benedictus, Takt 50ff.), mit der unschwer nach D hätte rückgeleitet werden können, bleibt ungenutzt - Süßmayr verharrt in B-Dur und ist infolgedessen gezwungen, auch das Fugato in B zu belassen. Die offene Tonartenfolge D-B steht somit in musikalischem Widerspruch zur liturgischen Zusammengehörigkeit des Sanctus-Benedictus-Textes.

Die Vertonung des Agnus Dei, eine dreimalig gesteigerte Gegenüberstellung der Lamm Gottes-Anrufungen (23) mit jeweils folgender Bitte "dona eis" (24) bildet zusammen mit der Ergänzung des "Lacrimosa" sicher die reifste eigenschöpferische Leistung Süßmayrs (sofern dieser Abschnitt nicht doch auf mündlich weitergegebene Planskizzen Mozarts gründet). Der harmonisch dicht gearbeitete Satz schließt bezeichnenderweise dominantisch (auf F als V.Stufe von B-Dur), um hier anschließend für die gesamte Communio den Introitus-Satz ab dem 19.Takt (B-Dur: "Te decet", hier: "Lux aeterna") zu verwenden und diesem Abschnitt den Text "Lux aeterna luceat eis, Domine: cum sanctis tuis in aeternum, quia pius es." zu unterlegen - ein weiser Entschluß Süßmayrs, der hier zum einen original überkommene Musik Mozarts an anderer Stelle nutzbarmachend unverfälscht konserviert und zum anderen durch Rückgriff auf den Einleitungssatz an dieser Stelle überzeugende großformale Rundung erzielt - "mehr Einförmigkeit", wie er selbst sagt (in seinem wichtigen Brief an Breitkopf vom Februar 1800, siehe Abschnitt 4). Die Verwertung der Kyrie-Fuge als "Cum sanctis tuis"-Abschluß scheint hingegen noch mündlich mitgeteilte Intention Mozarts zu sein (siehe Abschnitt 4).

Die Ergänzung Süßmayrs wird in der wissenschaftlichen Literatur mehrheitlich mäßig beurteilt. Ging ihm freilich der Vokalsatz allenthalben besser von der Hand als die Instrumentierung, so bleibt doch die Gesamtleistung nicht zuletzt im Hinblick auf die äußerst knapp bemessene Zeitspanne, in der die Arbeit zu erfolgen hatte, immer noch eine hervorragende. Süßmayr wächst darin über alles, was wir von ihm an eigener Musik kennen, weit hinaus. Durch seinen engen Kontakt mit Mozart in dessen letzten Lebenswochen erschien er für dieses heikle kompositorische Unterfangen geradezu prädestiniert, und er hat sich seiner Aufgabe mit immerhin hohem Einfühlungsvermögen, sicherem Stilgefühl und großteils imponierender Handwerksmeisterschaft entledigt. Wir haben es ihm noch heute zu danken, daß durch sein pietätvolles Handanlegen Mozarts unvollendetes Requiem, als Totenmesse letzter Gruß und vermächtnishafte "Memento mori"-Mahnung irdischer Vergänglichkeit, gleichwohl "vollendet" in die Unvergänglichkeit eingehen konnte als letztes, dem Musikfreund heiligstes Zeugnis eines in Jahrhunderten einmaligen Schöpfungswunders.

6. Mozart war als Komponist Traditionalist, durchaus kein Neuerer, Umstürzler, Revolutionär. Er steht - mehr Abschließer denn Pfadfinder - in reichen europäischen Musiktraditionen, die er bejaht, in sich aufnimmt, zusammenfassend rezipiert, amalgamierend seinem persönlichen Empfinden gemäß zurechtschmilzt und mit unerhörter Eigenvitalität anreichernd frisch geläutert wiedergebiert. Das ist vielleicht der eigentliche Innenbezirk seines säkularen Ingeniums: die Fähigkeit zur inneren Verarbeitung und Fruchtbarmachung genauest studierter, inwendig angeeigneter Vorlagenmuster, von denen ausgehend es ihm intuitiv gilt, Gutes übergipfelnd zu Genialem zu formen, gemäß dem schönen Bilde Alfred Einsteins, der in seiner Mozart-Biographie plastisch vermerkt: "Mozart benutzt seine Modelle quasi als Sprungbrett - er fliegt höher und kommt weiter." (Alfred Einstein: Mozart, Auflage 1953, S.148) Und in der Tat schwebt bei ihm über allem Zeitüblichen, über italienischem Formelwesen und konventioneller Typik ein unerhört beseligendes Fluidum, das zumal in den Werken der Vollreife scheinbar glatte Regelschablonen bis zum Rand mit Individualität zu erfüllen vermochte und eine (je später desto deutlichere) pessimistische Grundgestimmtheit (schon in den Frühwerken ab etwa 1773 beobachten wir bei ihm so oft nach fröhlichem Beginn ein unverzügliches Innehalten und Abschwenken ins Nachdenkliche) zu beglückender Heiterkeit emporzuläutern. Es war die unvergleichliche Leistung dieser seraphischen Erscheinung, dramatischer Erregtheit und dionysisch getrübtem Wesensuntergrund eine denkbar höchste apollinische Form- und Gestaltharmonie abzuringen, ohne darüber auch nur je acht Takte in Leerlauf zu geraten. (Vgl. Hans Joachim Moser, Musikgeschichte in hundert Lebensbildern, Stuttgart 1958, S.430.)

Kirchenmusik bedeutete nun seit jeher traditionsverhaftete Kunst, und gerade als Komponist eines Requiems war es für Mozart nur selbstverständlich, Neues aus Tradition zu schaffen. Des unumwundenen Vergangenheitsbezuges wird man erwartungsgemäß an zahllosen Partiturdetails gewahr, ohne daß auch nur in einem Takt der Eindruck von bloßer Stilkopie aufkäme. Und was die zum Muster genommenen Ausgangsvorbilder anbelangt, so überflügelt sein eigenes Werk sie alle, wenngleich für uns Heutige klar auszumachen ist, auf welch musikhistorisch gewichtigen Pilastern dieser überragende Vierungskuppeltorso ruht.

Steht Mozarts Requiem - stilistisch betrachtet - einerseits freilich in der großen süddeutsch-österreichischen Kirchenmusik-Tradition mit ihrer charakteristischen Einbeziehung südlicher Sinnenfärbung, so bedeutet das Werk doch andererseits ganz klar eine geläuterte Verarbeitung des schon in der großen c-moll-Messe von 1782/83 (KV 417a=427) sich spiegelnden Erlebnisses der strengen, ostmitteldeutsch-klassisch-polyphonen Kunst Bachs und Händels, wobei hier Elemente und Merkmale verschiedener Einflußsphären (etwa barocke Fugenkunst versus neapolitanische Arientypik versus liedhaft-homophonen Quartettgesang) nicht, wie noch im c-moll-Werk, unvermittelt nebeneinander stehen, sondern nunmehr - durch einen kunstschöpferisch-geschmacksläuternden Amalgamierungsprozeß letzter Durchdringung - zu einer idealen Synthese gebracht sind, wobei in sinnfälliger Disponierung satztechnischer Strukturen je nach dem Stimmungsgehalt der einzelnen Textabschnitte homophone und kontrapunktische Mittel wirkungssicher Anwendung finden. Und in eben dieser Synthese bleibt Mozart ganz Österreicher und Katholik dazu: so dunkelblau-störtebekerisch etwa seine Kyrie-Fuge anhebt, so sind es im weiteren Verlauf doch zartlockige Goldputti, die hier geistig spürbar mitsingen und die ernsthaften Vokalkantilenen zu elegant-himmelblauen Gesimsgirlanden mitstukkieren helfen. [In Joseph Haydns späten Hochämtern ist dies nicht anders; und Michael Haydn prägt - stärker als den Bruder und den Kollegen - ohnehin eine höchst feine, sozusagen humanistische Spielart alpenländischen Allegretto-Gemüts, mit dem sich seine Sakralmusik stets so sympathisch anheimelnd ausgestattet zeigt.] In diesem Bekenntnis zu Salzburgs barocker Geistigkeit ist Mozart als Kind des Ancien Régime noch ganz Rokokomensch vorrevolutionärer Prägung, wiewohl der Sturm auf die Bastille, welcher erstmals lautstark das langsame Ende der Zopfzeit einläuten sollte, in den Wochen, da ihn das Requiem beschäftigt, schon mehr als zwei Jahre zurückliegt. Und dennoch: sein Wiener Klassikertum besteht nicht zuletzt darin, gerade dieses salzburgische Erbe des südlichen Rokoko-Gestus tändelnder Unverbindlichkeit durch den unerbittlichen Trichter motivisch-thematischer Konzentration zu treiben, um ihn dann in planvoller Stringenz und Konzisität ebenso aufgehen zu lassen wie in der neugewonnenen Freiheit und ungeheuren Weite eines großen, gelösten Atems, besteht mit anderen Worten darin, alles Nur-Gefällige in schöne Klarheit zu fassen und so in klare Schönheit zu heben. Aloys Greither formuliert das Wesenhafte dieses Spätstils sehr anschaulich:

"Dieser, die billigen Forderungen der an leichte Kost gewöhnten Musikabnehmer völlig ignorierende 'Spätstil', der ganz aus den Notwendigkeiten des Geistes und der von allen Schlacken und allem gefälligen Beiwerk gereinigten musikalischen Materie schafft, dabei aber die letzten Ansprüche der Schönheit erfüllt, ist uns heute der Inbegriff der Satzkunst Mozarts. Deshalb vielleicht, weil hier, durch die souveräne Beherrschung und gleichzeitig die äußerste Beschränkung der technischen Mittel, durch die letztmögliche Gerafftheit und Kürze der Aussage, durch das vollendete Maß an Ausgewogenheit, Geschmack, Kraft und Leichtigkeit die sinnliche und zugleich spirituelle musikalische Schönheit rein und zeitlos gültig inkarniert ist." (Aloys Greither: Wolfgang Amadé Mozart - in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt - Reinbek bei Hamburg 1962, Neuauflage 1983,  S.101)

Schon mit den Mannheimer Meß-Fragmenten von 1778 (KV 296a=322, 296b, 296c), der Krönungsmesse von 1779 (KV 317), der Missa solemnis sowie der stupenden Bekenner-Vesper von 1780 (KV 337 bzw. 339) beginnt sich hochklassische Zucht in Mozarts sakralem Salzburger Rokoko-Geschmeide unüberhörbar Bahn zu brechen. (Hätte sie sich, so gilt es hier zu fragen, ohne Colloredos Kürzeforderungen in dieser Form und Intensität Bahn gebrochen?) Die Übersiedlung nach Wien schließlich bringt im Kreis van Swietens die aufwühlende Konfrontation mit Bach und Händel und beschwört jene große kirchenkompositorische Krise herauf, die an der c-moll-Messe voll umfänglich nachvollziehbar ist: dieser gewaltige Torso gibt uns Kunde, wie sich Mozart seinen ganz persönlichen Messenstil dachte. In phantastischer Überfülle schöpfte der 27jährige aus allen zu Gebote stehenden, in Eigengut umgeschmolzenen Vorbildern, mußte jedoch an dem für ihn damals noch unlösbaren Formproblem der Ausgleichsbewältigung stilistischer Divergenzen letztlich scheitern. Noch fehlte ihm bei all diesen Versuchen im Geben um Eigenstes und Tiefstes die letzte Gestaltungsreife.

Ab der Don Giovanni-Zeit (1787) rückte, was lange unerkannt blieb, die Auseinandersetzung mit Kirchenmusik erneut ins Blickfeld kompositorischen Interesses. Mozarts Bestreben gilt nun, wie in seinen gleichzeitig entstehenden außerkirchlichen Werken, einer klaren Steigerung in der vielfältig differenzierenden Ausschöpfung klanglicher Ausdrucksskalen bei wohlbedachter Beschränkung der musikalischen Mittel, sprich: einer Verdichtung thematisch-motivischer Arbeit bei gleichzeitiger Vereinfachung ("Kantabilisierung") des rhythmisch-melodischen Profils, wobei alles Kirchliche bezeichnenderweise wiederum im unvollendeten Skizzenansatz verbleibt: die Fragmente KV 196a, 258a, 323, 323a, 422a und möglicherweise auch 368a=341 (vielleicht gar kein "Münchner", vielmehr ein "Wiener" Kyrie?!) entstanden - neuesten Forschungsergebnissen zufolge - allesamt in Mozarts letzten Wiener Jahren! Die lange gültige Ansicht, Mozart hätte sich zwischen c-moll-Messe und Ave verum nicht mit Kirchenmusik auseinandergesetzt, ist jedenfalls zu revidieren. Was aber an der unbegreiflich vollendeten Fronleichnamsmotette vom Juni 1791 (KV 618) erstmals insonderheit auffällt, ist eine nunmehr zu konstatierende, im besten Sinn "klassizistische" Richtungsänderung in der tonsprachlichen Haltung, eine Technik, die fortan den kompakten vierstimmigen Chorsatz, welcher selbst im polyphonen Zuschnitt nie einer kantablen, oftmals geradezu liedmäßigen Oberstimmenmelodik entbehrt, zum strukturellen Mittelpunkt gewichtet und dem sich um das gesangliche Geschehen rankenden orchestralen Satzdessin das an unterstützend-veredelnder Vokallinienzeichnung zukommen läßt, was sie ihm an obligater Führung benimmt.

Diese für Mozart selbst in jeder Hinsicht neue, abgeklärte, hochklassisch geläuterte orchestrale Chorsatzanbindung, die im Ave verum zuerst zu beobachten ist, wird nun als spezifisch durchgeformte vokal-instrumentale Korrespondenzverknüpfung auf den größeren, aber doch recht eigentlich kammermusikalischen Instrumentalkörper des Requiems übertragen. Von Mozarts letzten Werken als "Spätwerken" zu sprechen, mag da höchstens biographisch, mitnichten ästhetisch gerechtfertigt erscheinen - markiert doch diese satzkonzentrierte, beiwerkentschlackende, substanzfiltrierend-klassizistische Umorientierung im Grunde einen kompositionstechnischen Neubeginn, den weiter zu verfolgen Mozart lediglich nicht vergönnt war.

Stilkritisch-entwicklungsgeschichtlich besehen mag man sagen, daß Mozart, nach Jahren des Reifens sich endlich 35jährig zum persönlichen Parnaß durchgerungen habend, in seinem entrückten Ave verum noch Höchstes im Kleinen vollenden durfte. Als er zum Requiem, jenem opus summum ansetzte, das die Erfüllung im Großen gebracht hätte, starb er. Das ist seine Tragik als Kirchenkomponist. Sein Vermächtnis geistlicher Musik wird dadurch nicht minder unsterblich.

 

Maria Waldrast, am 1. August 1999

Dr. Peter Hrncirik