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Werkbesprechungen

 

Franz Peter Schubert (1797-1828),
der Wanderer zwischen den Welten, Visionär und radikale Experimentator, seiner Zeit weit voraus, wird am 31. Jänner 1797 am Himmelpfortgrund in der Wiener Vorstadt Lichtental, heute Teil des 9. Bezirks, geboren. Er ist das dreizehnte von sechzehn Kindern – von denen nur fünf älter werden als ein Jahr. Sein aus Nordmähren stammender Vater Franz Theodor wirkt als Lehrer und Schulleiter, seine in Österreichisch Schlesien geborene Mutter Elisabeth Vietz ist vor der Hochzeit Köchin in einer Wiener Familie.
Im Alter von fünf Jahren erhält Schubert von seinem Vater den ersten Unterricht auf der Violine, bereits mit sieben Jahren bekommt er Orgelunterricht. 1808 wird er als Sängerknabe in die Hofkapelle Wien und in das kaiserliche Konvikt aufgenommen. Neben dem Kompositionsunterricht u.a. bei Antonio Salieri genießt er im Konvikt vielfältige musikalische Anregung. Als zweiter Violinist im Konviktsorchester lernt er die Instrumentalwerke Haydns und Mozarts kennen. Seine Begabung in der Komposition zeigt sich mit dem ersten Werk mit 13 Jahren. An Sonn- und Feiertagen werden in der Familie regelmäßig Streichquartettabende veranstaltet: sein Vater spielte Violoncello, seine Brüder Violine und er selbst Viola.
Da sich seine schulischen Leistungen verschlechtern, kehrt er im Oktober 1813 in das elterliche Haus zurück. Zu dieser Zeit komponiert er seine Symphonie Nr. 1 D-Dur. Er besucht eine Lehrerbildungsanstalt und wird 1814 für zwei Jahre Schulgehilfe seines Vaters. Daneben erhält er noch bis 1816 Unterricht bei Antonio Salieri und komponiert seine erste Oper, seine erste Messe (die Uraufführung am 25. September 1814 in der Lichtentaler Pfarrkirche ist die erste öffentliche Aufführung eines seiner Werke), mehrere Streichquartette, kürzere Instrumentalwerke und mehr als zwanzig Lieder, darunter Meisterwerke wie Gretchen am Spinnrade.
Trotz Schuberts zahlreicher Versuche, sich als Komponist zu etablieren, lehnen die Verlage die Publikation seiner Werke ab. Erfolglos bewirbt er sich als Kapellmeister in Laibach (heute Slowenien). Auf Vorschlag seines Freundes Franz von Schober verlässt er seine Lehrerstelle und zieht in Schobers Wohnung, um mehr Zeit mit der Komposition zu verbringen. Zu seinem Freundeskreis zählen u.a. der Bariton Johann Michael Vogl, einer der wichtigsten Sänger an der Wiener Hofoper, der seine Lieder bald in den literarischen Salons singt und ihn damit der Öffentlichkeit vorstellt. Der Pianist Josef von Gahy spielt seine Sonaten und Fantasien,
die musikalische Bürgerfamilie Sonnleithner organisiert zu seinen Ehren musikalische Zusammenkünfte, ab 1821 Schubertiaden genannt. Großteils sorgen seine Freunde für sein Auskommen. „Mich soll der Staat erhalten, ich bin für nichts als das Komponieren auf die Welt gekommen!“, sagt Schubert. Damit ist er einer der ersten freischaffenden Künstler – ohne Adel oder Kirche als Mäzene.
1818 erscheint mit dem Lied Erlafsee D 586 Schuberts erste Komposition im Druck. Im Sommer 1818 und auch 1824 ist er von der Familie des Grafen Johann Carl Esterházy als Sing- und Klaviermeister auf dem Gut in Zselíz/Zelis in Ungarn (heute Slowakei) engagiert. Für die Komtessen Marie und Caroline, die Töchter des Grafen, schreibt er vierhändige Stücke und Lieder. Zurück in Wien, wohnt Schubert zwei Jahre bei seinem Dichter-Freund Johann Mayrhofer, jeden Tag komponiert er vom Morgen bis nach Mittag. Er sendet drei seiner Lieder an Goethe, der darauf jedoch nicht reagiert.
In den folgenden Jahren geht Schuberts Schaffen quantitativ zurück, dafür zeigen die Kompositionen des Jahres 1820 eine Weiterentwicklung seines Stils. Seine Krise betrifft künstlerisch die große symphonische Form und die Oper. Er beginnt mit dem unvollendet gebliebenen Oratorium Lazarus, schreibt neben kleineren Stücken den 23. Psalm, den Gesang der Geister und den Quartettsatz in c-Moll. Erstmals werden 1820 zwei von Schuberts Opern am Theater aufgeführt: am Kärntnertor Die Zwillingsbrüder und Die Zauberharfe im Theater an der Wien. Die passablen Erfolge ermöglichen ihm eine breitere Öffentlichkeit, doch erst als Vogl den Erlkönig D 328 in einem öffentlichen Konzert gesungen hat, veröffentlicht der Verleger Anton Diabelli einige Werke Schuberts auf Kommission.
Dies ist der entscheidende Einschnitt in Schuberts Schaffen.

An der Veröffentlichung seiner ersten Werke verdient Schubert etwa 800 Taler – als Schulgehilfe hat er von seinem Vater neben Kost und Logis lediglich 80 Taler jährlich bekommen. Otto Erich Deutsch, der um 1950 Schuberts Werkverzeichnis erstellt, schätzt Schuberts weiteres Einkommen zwischen 1822 und 1828 auf etwa 7.000 Taler. Das meiste Geld gibt er für Abende im Freundeskreis in den Altwiener Gasthäusern aus, was seinem Ruf nicht gerade förderlich ist.
Ermutigt von den Erfolgen versucht Schubert nun, sich als Bühnenkomponist zu etablieren, wird aber – aufgrund der dramatisch und ästhetisch unergiebigen Libretti – in seinen Hoffnungen enttäuscht. Dass es ihm nicht am Sinn für Dramatik mangelt, beweisen allein die in diesem Konzert zur Aufführung gelangenden Werke.
Schuberts Gesundheitszustand gab Anlass zu Spekulationen. Mit zunehmendem Alter wird er korpulenter und neigt zu Alkoholexzessen. 1822 befällt ihn eine Krankheit und belastet ihn psychisch schwer: „Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen der Welt“, schreibt er an Leopold Kupelwieser. Er hat sich eine venerische Erkrankung, wohl Syphilis, zugezogen, im Januar 1823 befindet er sich zur stationären Behandlung im Wiener Allgemeinen Krankenhaus.
Trotz Beschäftigung mit der Bühne und offiziellen Pflichten findet er während dieser Jahre die Zeit für viele andere Kompositionen: 1822 beendet er die Messe Nr. 5 As-Dur, beginnt „Die Unvollendete“, sein erster berühmter Liederzyklus Die schöne Müllerin und zwei Streichquartette in a-Moll und d-Moll, „Der Tod und das Mädchen“ sowie das Oktett in F-Dur entstehen.
Im Jahr 1825 hat Schubert noch einmal eine glücklichere Phase, in die eine Reise nach Oberösterreich fällt. Dort arbeitet er u.a. an der verschollen geglaubten „Gasteiner Symphonie“, der großen Symphonie C-Dur D 944. Die Klaviersonate a-Moll D 845 kann er zu einem hohen Preis veröffentlichen. Die Stelle des Vizekapellmeisters an der kaiserlichen Hofkapelle, um die er sich 1826 bewarb, wurde nicht an ihn vergeben. Die angebotene Stellung als Hoforganist schlägt er jedoch aus. 1826 folgen das Streichquartett G-Dur, Werke für Klavier sowie Schuberts bekanntestes geistliches Werk, die Deutsche Messe. 1827 komponiert er den Liederzyklus Die Winterreise, die Fantasie für Klavier und Violine und die beiden Klaviertrios in B-Dur und Es-Dur.
Am 26. März 1828 gibt Schubert das einzige öffentliche Konzert seiner Karriere, das ihm 800 Taler einbringt, zahlreiche Lieder und Klavierwerke sind inzwischen gedruckt worden. Er schreibt die Messe Nr. 6 Es-Dur, das Streichquintett C-Dur D 956, die letzten drei Klaviersonaten und den Liederzyklus Schwanengesang. Ferner skizzierte er noch drei Sätze für eine Sinfonie in D-Dur.
Nach zwei Wochen kontinuierlichen Fiebers stirbt Franz Schubert am 19. November 1828 im Alter von 31 Jahren in der Wohnung seines Bruders Ferdinand Schubert an „Nervenfieber“. Die Todesursache dürfte Bauchtyphus gewesen sein.
1872 wird zu Schuberts Andenken im Wiener Stadtpark ein von Carl Kundmann gestaltetes Denkmal errichtete, 1888 werden seine Gebeine in ein Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof überführt. Klischees vom gemütlichen „Schwammerl“ und die später verfilmte Operette „Das Dreimäderlhaus“ verzerren das Bild Schuberts in der Nachwelt, in jüngerer Zeit wird er zum Revoluzzer gegen Metternich oder Zentralfigur einer homosexuellen Subkultur stilisiert.
Schubert hat in allen Gattungen seiner Zeit Außerordentliches geschaffen und wird in der heutigen Musikwissenschaft neben Beethoven als der Begründer der romantischen Musik im deutschsprachigen Raum angesehen.
Schuberts 100. Todesjahr 1928 wurde in Österreich groß gefeiert, unzählige Denkmäler, Gedenktafeln und Schubert-Linden wurden „Dem deutschen Liederfürsten Franz Schubert“ gewidmet. In Wien wurde 1928 ein Teil der Ringstraße (nahe dem Johann-Strauss-Denkmal und dem Beethovenplatz) Schubertring benannt. Heute zählen seine Werke zum zentralen Konzertrepertoire, immerhin 2011 erschien die erste adäquate Biographie.
Sowohl seine „Unvollendete“, die Symphonie in h-Moll aus dem Jahr 1822, wie auch die Messe in Es-Dur, fertig gestellt wenige Monate vor seinem Tod 1828 im 32. Lebensjahr, zeigen die große Reife eines Komponisten, der bis heute vielfach missverstanden und missdeutet wird.
Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit hat Schubert sicher nicht mit einem frühen Tod gerechnet. Insofern ist alle Todessehnsucht, die in sein Spätwerk hineingelesen wird, Projektion. Oder hat Schubert in seinem Innersten doch geahnt, dass ihm nicht allzu viel Zeit auf Erden beschieden ist? Seine großen späten Werke klingen danach, als hätte er schon in die Klänge der Ewigkeit „hinübergehört“. Beide Werke, die in diesem Konzert zur Aufführung gelangen, lassen eine große, persönlich gefärbte Spiritualität erkennen.


Symphonie Nr. 7 in h-Moll D 759 „Die Unvollendete“
Nach seinen sechs frühen Symphonien, die er innerhalb von fünf Jahren komponiert hat, zweifelt Schubert an seinem bisherigen Weg. In seinen Krisenjahren 1818-1823 (u.a. aufgrund unerfüllter Liebessehnsucht, ersten Anzeichen einer Syphilis-Infektion und auch künstlerisch auf der Suche) entstehen – auf dem „Weg zur großen Symphonie“– vier Entwürfe zu Symphonien. Einer davon sollte Schuberts berühmtestes Werk überhaupt werden: die „Unvollendete“.
Schon die Wahl der Tonart h-Moll hat Bedeutung: viele Komponisten der Barockzeit und später (bis hin zu Bruckner) assoziierten diese Tonart mit Dunkelheit und Tod. Beethoven soll sie „die schwarze Tonart“ genannt haben. Auch der Ton h steht oft für den Tod, so in Schuberts Liederzyklen Die schöne Müllerin und Die Winterreise. Das wohl bedeutendste Werk in dieser Tonart vor Schubert ist Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe. Nach der indischen Zuordnung der Töne zu den Chakren des menschlichen Körpers ist h mit dem Scheitel- oder Kronen-Chakra verbunden, das sich dem Göttlichen zuneigt.
Schuberts „Unvollendete“ wird zu den schönsten Werken der symphonischen Literatur gezählt – und hat zugleich etwas an sich, das Furcht erregen kann. Im ruhigen Bewegungscharakter (3/4 – 3/8, Allegro moderato - Andante) sind die beiden Sätze einander ähnlich, im Ausdruck jedoch sehr unterschiedlich. Der erste Satz ist ein höchst regelmäßig gebauter Sonatensatz. Der Übergang vom ersten zum zweiten Thema ist eindringlich und deutlich, unvergesslich prägen sich die Themen dem Hörer ein. Innerhalb dieser sprengt Schubert jedoch die Konventionen der Gattung. Die melodisch und harmonisch ausdrucksvolle Linie der Bässe über acht Takte ist für alles Kommende von größter Bedeutung. Darüber erhebt sich das Thema, eine ausgesprochen lyrische Melodie, die im sechsten Takt im Forte eine seltsame Trübung, eine Art Verwirrung erfährt.
Hier zeigt sich, dass Schuberts „Unvollendete“ bei weitem nicht nur schön und harmlos lieblich ist: in Wirklichkeit gehört sie „zum Härtesten, zum Unbarmherzigsten, was die Wiener Klassiker und Franz Schubert hervorgebracht haben“. Das berühmte zweite Thema erfährt keine biedermeierlich behagliche Verarbeitung und Ausmalung, kein versöhnliches Fortspinnen: es verstummt jäh und in die Generalpause, in der die Musik gleichsam erstarrt, bricht das harte Fortissimo des vollen Orchesters ein, noch dazu in der Tonart c-Moll, während der Satz in h-Moll steht. Was Schubert hier an Härte und gleichsam hereinbrechender Urgewalt für seine Zeitgenossen zum Ausdruck bringen will, ist für Hörer des 21. Jahrhunderts nur mit einem schmerzvoll jähen Zwölftonakkord vergleichbar.
Eine allegorische Erzählung, die Schubert Anfang Juli 1822 niederschrieb und zu der sein Bruder Ferdinand später ergänzte „Mein Traum. Franz Schubert“, gab Anlass, die Symphonie als Programmmusik zu verstehen. Tatsächlich geben die beiden Teile des Textes Einblick in Schuberts Leben und Denken, in seine Psyche und Weltanschauung – und werden fallweise als Programm der „Unvollendeten“ verstanden. Damit wäre die Symphonie mit ihren beiden Sätzen sehr wohl als vollendet anzusehen. Dagegen spricht jedoch, dass Schubert nach dem schon zitierten Brief von März 1824 den Weg zur großen Symphonik mit der „Unvollendeten“ noch nicht gefunden zu haben glaubt.
Warum Schubert das Werk nicht „vollendet“ hat, das heißt wie üblich mit vier Sätzen angelegt hat, ist bis heute rätselhaft. 20 Takte eines dritten Satzes „Scherzo“ sind skizziert. Er schreibt auf einem besonderen Umschlagblatt den kalligraphischen Titel des Werks „Sinfonia / in / H moll /von Franz Schubert mpia“ – manu propria, „mit eigener Hand“.
War das Werk für ihn auch mit zwei Sätzen „vollendet“? Kam er zur Einsicht, dass sich ein Scherzo im traditionellen Stil nicht in das Konzept der beiden ersten Sätze fügen ließ?
Eine plausiblere Begründung für den fragmentarischen Zustand lässt sich aus dem Werkkatalog ableiten. Während Schubert am dritten Satz der „Unvollendeten“ arbeitet, erhält er den höchst lukrativen Kompositionsauftrag für die Wandererfantasie D 760. Die wie eine Sonate viersätzig angelegte Fantasie für Klavier, die ein Motiv aus dem Lied Der Wanderer („Ich komme vom Gebirge her“) verarbeitet, ist keine geringere Herausforderung als eine Symphonie, zumal Schubert in diesen Jahren kein Ansehen als Komponist von Klaviermusik hat, jedoch die Chance für den Schritt an die Öffentlichkeit wahrnimmt. Zudem arbeitet Schubert zeitgleich an der Oper Alfonso und Estrella und auch der Kompositionsauftrag der Hofoper für die Oper Fierrabras liegt bereits vor. Das bedeutet, dass Schubert aus rein praktischen Gründen die Arbeit an der „Unvollendeten“ unterbricht und – wie auch bei anderen Fragmenten – nie wieder fortsetzt.
So wie viele andere Werke hat Schubert die Symphonie nie gehört. 1823 schickt er die nicht zu Ende geschriebene Partitur der „Unvollendeten“ nach Graz. Der Zusammenhang mit der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft im Steiermärkischen Musikverein ist fraglich. Auf Umwegen kommt das Manuskript in den Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, deren Orchester die „Unvollendete“ 1865 unter der Leitung von Johann Herbeck zur Uraufführung bringt – 43 Jahre nach ihrem Entstehen, 37 Jahre nach Schuberts Tod. Sie wird vom Publikum wie Kritik begeistert aufgenommen.
Faksimile (1885) von Schuberts Autograph der Unvollendeten (Dritter Satz, Scherzo) als Beilage der Biographie ihres Entdeckers Johann von Herbeck
Datei:Symphony No. 8 in B minor.jpg

 

Messe Nr. 6 in Es-Dur D 950

An seiner sechsten und letzten vollendeten lateinischen Messe in Es-Dur (neben der Deutschen Messe hinterließ er Fragmente zu sechs weiteren Messen und zahlreiche andere geistliche Werke) schreibt Schubert – nach dem Autograph der Partitur zufolge – ab dem Juni seines Todesjahres 1828. Möglicherweise hat er die Messe jedoch bereits 1825 begonnen, d.h. noch während der Arbeit an der As-Dur-MesseD 678 und der Großen C-Dur Symphonie D 944!
Die Es-Dur-Messe erinnert in ihrer Konzeption an seine Messe in As-Dur, seine „Missa solemnis“ (eine besonders feierliche Messe), an der Schubert zwischen 1819 und 1826 (!) arbeitet. Während er sich in der Tonartenfolge wieder tradierten Modellen zuwendet, verzichtet Schubert auf Flöte und Orgel. Im Vordergrund steht der Chor, auch der Part der Solisten verliert an Gewicht. Bemerkenswert ist, dass Schubert im Credo beim et incarnatus est (und er ist Mensch geworden) einen zweiten Tenor einsetzt, was in der gesamten Mess-Literatur einzigartig ist. In der Wahl der Tonart Es-Dur klingen nach Christian Schubart nicht Grab und Tod an, sondern „der Ton der Liebe, der Andacht, des traulichen Gesprächs mit Gott, durch seine drei B die heilige Trias ausdrückend“.
Im knapp geprägten Kyrie kehrt Schubert zur traditionellen Dreiteiligkeit zurück. Von den ruhigen Linien des Kyrie ist das Christe durch erregte Triolen in den Violinen und den kräftigen Rufen des Chores abgesetzt – der Mensch wendet sich mit der Bitte um Erbarmen vor allem an Jesus, den Menschen.
Das Gloria ist vierteilig angelegt, wobei sich die ersten drei Teile zu einem einheitlichen Satz verbinden, auf den die große, über 205 Takte (von 464 Takten des ganzen Gloria!) lange Fuge Cum Sancto Spiritu folgt. Lobpreisung und Danksagung bilden den ersten Teil des Gloria. Auf das Gloria in excelsis Deo folgt eine jubelnde Orchesterfanfare. Mit dem überlieferten liturgischen Text geht Schubert im folgenden noch freier um. Der Mittelteil wendet sich ausschließlich an das Lamm Gottes und weist damit bereits auf den letzten Teil der Messe, das Agnus Dei hin. Die festen, unbeirrbaren Linien der Bläser, die für die Welt des Gesetzes stehen, kontrastiert Schubert mit Streicherakkorden, die durch eingestreute Pausen zerrissen sind und im Tremolo beben – und damit die menschliche Angst und Ungewissheit verdeutlichen. Der Chor, zunächst nur zweistimmig, singt hochgespannte Rufe in ungewöhnlichen Intervallen, die in die eigentliche Bitte um Erbarmen im Pianissimo münden, wobei das Orchester fast ganz verstummt.
Zur Technik der Fuge wird immer wieder angeführt, dass Schubert noch zwei Wochen vor seinem Tod Unterricht bei Simon Sechter genommen hat. Entscheidend dafür, dass die Fugen der Es-Dur-Messe die früheren an Kunstfertigkeit und innerem Anspruch überragen, ist Schuberts Auseinandersetzung mit den Oratorien von Georg Friedrich Händel. Durch immer enger aneinander rückende Einsätze der Stimmen wird die Dichte des Gloria gesteigert.
Im Credo erscheint das Credo in unum Deum in Form einer mehrfach wiederkehrenden Kadenz als eine Formel, die nach allgemeiner Zustimmung sucht. Eingeleitet wird sie mit einem Paukenwirbel und einem darauf folgenden Lamento-Bass, die das Fragezeichen des Zweifels zulassen.
Die Textauslassungen in Schuberts Messen führen immer wieder zur Frage nach seiner Religiosität. Wie auch andere hat sogar Anton Bruckner, Inbegriff der Frömmigkeit, nicht alle Passagen der umfangreichen liturgischen Texte vertont. Einzig, dass Schubert konsequent das et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam (und ich glaube an die eine heilige katholische und apostolische Kirche) in allen seinen Messen unvertont ließ, darf als seine Kritik an der Kirche seiner Zeit und ihrem weltlichen Verhalten gesehen werden.
Der Mittelteil des Credo, das Et incarnatus est, ist besonders hervorgehoben. Der hymnische Gesang in neuem Tempo und neuer Tonart As-Dur, dem „Gräber-Ton“, weist auf Kreuz und Tod voraus, der Chor antwortet auf den Kanon der Solisten mit unterdrückter Leidenschaft im Crucifixus. Die Wiederholung der Kadenz-Formel mündet in die zweite große Fuge et vitam venturi saeculi (und ich glaube an das ewige Leben), deren Ende nicht die Gewissheit des Glaubens verdeutlicht, sondern die Klage um den am Kreuz Gestorbenen.
Im Sanctus wecken vibrierende Streichertremoli, mächtige Ausbrüche und tonale Irritationen mit ständigem Wechsel der Tonart den Schauer der Heiligkeit. Ein lebhaftes (H)Osanna, eine ungewöhnlich knappe Fuge, bilden den Schluss.

Das kantable Andante des Benedictus ist wie meist bei Schubert den Solisten anvertraut, auf die der Chor antwortet.
Im Agnus Dei bildet ein „Kreuzmotiv“ aus den Tönen C-H-Es-D (die aufgeschriebenen Noten formen ein Kreuz, wenn man sie mit Linien verbindet) dissonant und laut gestaltet ein Zeichen menschlichen Unfriedens ab, so als wolle der Komponist in einer Art Doppelfuge mit dem Bild des Gekreuzigten die schmerzliche Lage des leidenden Menschen verbinden: in einem Brief stellt Schubert den Menschen als „die vollendetste Schöpfung des großen Gottes“ dem „grauenvollen Morden“ des Krieges gegenüber – würde Schubert 2012 anderes schreiben? „Hilfeschreie wie beim Gang durch die Via dolorosa, die Gassen von Aleppo und Damaskus oder eines Flüchtlingslagers in Afrika“ sind es für Maria Magdalena Nödl. Das Dona nobis pacem (Schenke uns Frieden!) wird zur verzweifelten Klage: der Rhythmus stolpert, im Wechsel von Chor und Solisten wächst die Erregung, Forte und Piano prallen aufeinander, bis die letzten Takte in einer nochmaligen Trübung auf Moll und im Piano der Resignation zu verklingen scheinen.
Obwohl in Österreich 1828 – 13 Jahre nach den Napoleonischen Kriegen – Friede herrscht, kann Schubert daran nicht wirklich glauben: der Friede Metternichs im Zeichen der Unterdrückung war nicht Schuberts Vision von Frieden. So zeugt seine Es-Dur-Messe vom Schmerz angesichts der Heillosigkeit der Welt. Und dennoch lässt Schubert im Takt 10 des Dona nobis pacem im Wechsel von Moll auf Dur die Wolken aufklaren: der Himmel ist da, trotz allem.
Schubert soll über seine Es-Dur-Messe gesagt haben, er habe darin „das Höchste in der Kunst“ angestrebt. Die Uraufführung findet am 4. Oktober 1829 in der Pfarrkirche „Heilige Dreifaltigkeit“ in Wien Alsergrund statt – hier war der Leichnam Beethovens eingesegnet worden, zur Glockenweihe dieser Kirche hatte Schubert wenige Wochen vor seinem Tod den Hymnus Glaube, Hoffnung und Liebe D 955 komponiert. Das Publikum findet großen Gefallen an der Messe, sie wird mehrmals wiederholt.                         

Mag. Robert Berger