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Werkbesprechungen

 

Johannes Brahms
1833 – 1897

Ein deutsches Requiem, op.45
nach Worten der Heiligen Schrift

Glücklich, wer nach einem erfüllten Dasein erst am Ende seines Lebens mit dem Tod konfrontiert wird. Den meisten Menschen jedoch begegnet der Unvermeidliche weit vor dem eigenen Sterben: Mit voller Wucht durch den tragischen Verlust nahe stehender Menschen, schmerzlich in der Auflösung von Liebesbeziehungen und Freundschaften, erniedrigend in einem beruflichen Scheitern, vielfach unbewusst in Verzichtsituationen, Zurücksetzungen und Enttäuschungen.

Auch Johannes Brahms hatte seine ‚Todeserfahrungen’. In den Olymp gehoben von Robert Schumann, verliebte er sich in dessen Frau Clara und verlor beide: Den Freund und Förderer durch seelische Erkrankung, die bis zum Selbstmord führte und die geliebte Frau nach dem Tod ihres Gatten. Es verband sie zwar auch weiterhin eine tiefe Freundschaft, als Frau jedoch blieb sie unerreichbar. Ebenso unerfüllt blieb die Beziehung zu Agathe Siebold.

Bald darauf finden sich die Textstellen des Requiems auf der Rückseite einer Komposition aus dem Jahre 1861 und zeugen somit nicht nur von der frühen Auseinandersetzung mit einer Totenmesse, sondern auch von genauer Bibelkenntnis des erst 28-jährigen Tonschöpfers. Aus verschiedenen Briefen ist ersichtlich, dass Johannes Brahms keinesfalls im kirchlichen Sinne gläubig war. Er hat immer wieder behauptet, er glaube nicht an die Unsterblichkeit der Seele und an ein Leben nach dem Tod. Vielleicht liegt auch hierin die Ursache begründet, dass Brahms, seinem ‚eigenen Glauben’ folgend, im Gegensatz zur bis dahin gebräuchlichen lateinischen Form sein Requiem auf Basis von deutschen Bibelzitaten als diesseitiges, zutiefst tröstliches Werk allem Weltschmerz entgegenstellt.

Den abgehobenen Aussichten der lateinischen Liturgie auf das, was außerhalb aller menschlichen Berechnung liegt, der Angst vor ewiger Verdammnis und der Vorstellung des jüngsten Gerichts widerspricht Brahms mit seiner Idee des Trostes für die Hinterbliebenen. Liegt dort das Schwergewicht auf der Sequenz des „Dies irae“, so umschließen hier Worte aus der Bergpredigt „Selig sind, die da Leid tragen“ (1. Chor) und aus der Offenbarung des Johannes „Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben“ (7. Chor) nicht nur formal das gesamte Werk, sondern verweisen auf den zentralen Gedanken: „Denn sie sollen getröstet werden“.

Viel kann im Nachhinein in die formale Struktur von Kunstwerken hineininterpretiert werden. Musiker finden Entsprechungen in den Tonarten, Mathematiker in der Anzahl von Takten, Architekten in der Anordnung von ‚musikalischen Bausteinen’.

So bietet auch die literarische Satzfolge in ihrer Symmetrie

1. Satz Selig   7. Satz: Selig
2. Satz: Tod   6. Satz: Auferstehung
3. Satz: Klage   5. Satz: Trost
  4. Satz: Paradies  

eine durchaus interessante Sichtweise.

Brahms hat nach dem Tod seiner geliebten Mutter im Jahre 1865 die Arbeit an sei-nem Requiem wieder aufgenommen und den 4. Satz „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ vollendet.

1867 erklangen die ersten drei Sätze in einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Das Unterfangen endete mit einem eklatanten Misserfolg. Am Karfreitag des Jahres 1868 erfolgte in Bremen die Aufführung der bis dahin fertiggestellten Sätze 1 - 4 und 6 – 7. Sie hinterließen einen tiefen Eindruck. Der bei diesem Konzert noch fehlende fünfte Satz wurde auf Anregung des Bremer Domkapellmeisters Carl Martin Reinthaler eingefügt und das vollständige Werk, wie wir es heute kennen, erlebte am 18. Februar 1869 seine Uraufführung im Leipziger Gewandhaus.

Von dort aus nahm das Werk einen bisher140-jährigen Siegeszug durch die ganze Welt und ist aus dem Konzertrepertoire nicht mehr wegzudenken, denn das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms ist keine Trauermusik im Gedenken an die ewige Ruhe der Toten, sondern der Trost derer, „die da Leid tragen“; eine Musik vor allem für die Lebenden.

Josef Newerkla