Impressum | Home

Werkbesprechungen

 

 Carl Orff
1895 - 1982

Carmina Burana


Das ehemalige Kloster Benediktbeuren, nördlich des Kochelsees im oberbayrischen Landkreis Bad Tölz gelegen, zählte zu den großen altchristlichen Kulturzentren nördlich der Alpen und geht in seiner Gründung bis auf das frühe 8. Jahrhundert zurück. In seiner Bibliothek beherbergte das Bendiktinerstift lange Zeit eine wertvolle mittelalterliche Handschrift, die heute unter der Signatur clm (=codex latinus monacensis) 4660 in der Bayrischen Staatsbibliothek zu München verwahrt wird: die „Lieder aus Beuern“ – „Carmina Burana“ – eine der bedeutendsten Sammlungen mittelalterlicher weltlicher Lyrik mit altfranzösischen und mittelhochdeutschen Einsprengseln.

Dieses in seiner Art umfangreichste und eigenartigste belletristische Konvolut des Mittelalters wurde am Ende der großen Blütezeit mittellateinischer Dichtung, die am Ausgang des 11. Jhdts. angebrochen war und gerade noch ins 13. Jhdt. hineinreichte, zusammengestellt. Der reich illustrierte Codex nahm vor allem Dichtungen seiner eigenen Epoche auf, aber auch ältere Stücke sind darin vertreten. Entstanden ist die Sammlung etwa zwischen 1220 und 1230 im südlichen, italienischen Einflüssen ausgesetzten Grenzgebiet des deutschen Sprachraums, vielleicht im steirischen Seckau; aber auch das noch südlichere Kloster Neustift bei Brixen ist (aufgrund der Sprachform) als möglicher Entstehungsort namhaft gemacht worden. Die drei Hauptgruppen der Handschrift enthalten 55 moralisch-satirische Lieder (nebst einigen historischen), 131 Liebeslieder sowie 35 Trink-, Spiel- und Vagantenlieder. Gerade Letztere stellen nach Art und Anlage das wohl bedeutsamste Vorläufercorpus unserer jüngeren Studentenlieder dar.
Die klangvolle, rhythmisch prägnante Sprache vieler Carmina war offenkundig von Anfang an zum Singen gedacht; Neumen (alte Notenzeichen), die heute freilich nicht mehr musizierbar sind, durch-ziehen die Handschrift. Die unvergilbte Jugendfrische der Carmina Burana hat Generationen von Lateinschülern an den humanistischen Gymnasien begeistert; dass aber einige der Gedichte heute wirklich weltbekannt sind und auch bei Menschen und in Kulturkreisen Beachtung finden, die dem Latein sonst fernstehen, ist ohne Zweifel Carl Orff (geb. am 10. Juli 1885 in München, gest. am 29. März 1982 ebenda) zu verdanken, der die zeitüberdauernde Schönheit dieser Lieder, ihre blutvolle rhythmische Durchpulsung, die zugleich an Urmenschliches rührt, erkannt und mit seinem Gespür und hoher Originalität den Dichtungen ihr immanentes Klanggefälle abgelauscht hat. Die Doppelpartitur seiner Carmina Burana (zwei Fassungen: für großes und für kleines Orchester) zählt zu den kostbaren musikalischen Vermächtnissen des 20. Jhdts.
Orffs seelische Beheimatung im Bajuwarischen ist für ihn zweifellos bedeutsam, und gerade der Gelehrteneinschlag seiner Familie hat ihn nachhaltig geprägt; aber seine Kunst- und Bildungsneigungen weisen seüdwärts, die mittelmeerische Antike zumal wurde ihm nicht nur rezeptiv, sondern auch schöpferisch zur wichtigsten Kraftquelle- und wo sich das Latein mit dem Altbayrischen traf, wie in dieser herrlichen, gleichsam vor seiner Haustür liegenden Vaganten- und Studentenlyrik der Carmina, da mußte Orffs Gestaltugnstrieb Ungewöhnlich-Unverwechselbares leisten.

Eine glückliche Fügung war es, die Orff im Frühjahr 1934 einen Würzburger Buchantiquariatskatalog in die Hände spielte. Er bestellte daraus:“Lateinische und deutsche Lieder und Gedichte aus einer Handschrift des XIII. Jhdts. aus Benediktbeuren, herausgegeben von J.A.Schmeller“. Als er am Gründonnerstag das Buch erhielt, war er schon beim Aufschlagen und Lesen der ersten Zeilen so überwältigt und von deren Wortkraft und Musikaliltät, dass der Inspirationsfunke sofort überschlug und er noch am selben Tag eine Particell-Skizze des Fortuna-Chores etnwarf und auch gleich das „Fortune plango“ vertonte; am Ostermorgen war die Musik des „Ecce gratum“ zu Papier gebracht, doch mittlerweile hatte sich Orff in der umfangreichen Gedichtsammlung verloren. Was ihn, wie er selbst berichtet, von Anfang an bewegte, war „der mitreißende Rhythmus, die Bildhaftigkeit dieser Dichtungen und nicht zuletzt die vokalreiche Musikalität und einzigartige Knappheit der lateinischen Sprache.“
In dieser Zeit  einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber der Textfülle kam dem Komponisten nun seine Freundschaft mit Michel Hofmann, einem jungen musikbegeisterten Bamberger Staatsarchivrat und leidenschaftlichen Lateiner, sehr zugute.  Die beiden arbeiteten von nun an zusammen an einer systematisch-kritischen Textauswahl: „Es begann ein Suchen und Sichten, ein Finden und Verwerfen, bis sich einzelne Teile aus der Fülle immer mehr abzeichneten.“
Man entschied sich für eine Gliederung der ausgewählten Gedichte in drei Teile:
I. Primo vere. – Uf dem Anger. II. In Taberna. III. Cours D’amours mit Blanziflor und Helena. Anfang und Schluss des Werkes bildet jener mächtige, mitreißende Schicksalschor „O Fortuna, velut luna“, den Orff 40 Jahre nach der Erstaufführung mit einer Initiale verglich, die „längst in ihrem Lapidarstil ein `geflügeltes Wort` geworden ist.“
Im August 1936 war die Partitur beendet. Der originale Untertitel „Cantiones profanae cantoribus et choris cantandae comitantibus instrumentis atque imaginibus magicis » sieht ausdrücklich auch szenische Umsetzung vor – die Carmina Burana sind eigentlich ein Bühnenwerk (was ost übersehen wird). Ein knappes Jahr später, am 8. Juni 1937, fand in Frankfurt am Main die Uraufführung statt: Oskar Wälterlin hatte die Regie übernommen, Ludwig Sievert das Bühnenbild entworfen, Bertil Wetzelsberger stand am Dirigentenpult. Anfängliche Bedenken vieler Freunde gegen Orffs Verwendung der angeblich „toten“ lateinischen Sprache für dieses Werk erwiesen sich bald als unbegründet: gerade die scheinbar tote Sprache ist die lebendigste, weil sich in und an ihr nichts mehr ändert, weil sie keinerlei Wandlungsprozessen mehr unterworfen ist und ihre wie in Stein gemeißelte Endgültigkeit der Aussagekraft unmittelbar „unter die Haut geht“. Der weltweite Erfolg der Carmina hat Orff gerade darin recht gegeben.
Die unverwechselbare Musiksprache der Carmina Burana charakterisiert Orff selbst als einen „auf Bordun und Ostinato aufbauenden Stil“. Und er äußert zur musikalischen Struktur:
„Ein besonderes Stilmerkmal der Carmina Burana-Musik ist ihre statische Architektonik. In ihrem strophischen Aufbau kennt sie keine Entwicklung. Eine einmal gefundene musikalische Formulierung – die Instrumentation war von Anfang immer mit eingeschlossen – bleibt in allen ihren Wiederholungen gleich. Auf der Knappheit der Aussage berührt ihre Wiederholbarkeit und Wirkung.“
Die musikalische Umsetzung folgt also bei allen mehrstrophigen Gedichten streng dem strophischen Vorwurf der Texte, deren Bilderreichtum im übrigen keine Helden und Konflikte kennt. Orffs Ästhetik des Weglassens und Verzichtens vermeidet Tautologien. Was Wort, Musik und Gestik bereits synchron zum Ausdruck bringen, bedarf keiner musikalischen-psychologischen  Varianten. Wilhelm Killmeyer zeigte sich 1979 von der (bei allem berauschenden Instrumetalaufgebot) reduziert-asketischen Schreibweise Orffs beeindruckt, wenn er bemerkte: „Orff ist für mich der unakademischste und undogmatischste Komponist, den ich kenne. Nicht die Pracht vieler Töne, sondern die Kraft weniger Töne ist es, die seine musikalische Sprache so faszinierend macht.“

Im Werk Carl Orffs, das nahezu ausschließlich textgebundene Musik vorstellt, finden sich die bewegungsmäßigen und mimischen Elemente einer gleichsam „vorgeistigen“ Schaubühne mit Sprache und Musik zu integrativen Kunstträgern eines neuen „totalen“ Theaters zusammen.
Die Musik ist nicht autonom, sondern eine Art Klangregie, die dem erklingenden Wort plastische Leiblichkeit verleiht in Form von verschiedengestaltigen Wort-Ton-Strukturen: dem rhythmisierten Sprechen, der rhythmischen Motorik, der psalmodierenden Rezitation, der intervallischen Konstruktion, der Koloratur, dem Arioso etc. Durch einen auf reichdifferenziertem Schlagwerkgrund fußenden Orchesterapparat wird ein ausdrucks- und nuancenreicher Klangraum für das Wort geschaffen. Dieser Klangraum erwächst nicht aus einer  (im klassischen-romantischen Sinn) traditionellen auf  Motivfortspinnung und thematischer Arbeit beruhenden Satzkunst; vielmehr sind es archaisch-statische Fundamenttechniken (Tonreperkussion, Orgelpunkt, Bordun, Ostinato, Wechselklänge, Mixturspaltungen, Organaltechnik Dur/Moll als quasi vorharmonischer Klangflächenkontrast etc.) von denen Orffs Kompositionsmethode grundlegend bestimmt ist.
Die Konzeption des Ton- und Formmaterials ist meist aus einer „Klangzelle“ herausgearbeitet und bildet die periodische Wiederkehr von Formeln aus, deren beharrlich hämmernde Wiederholungen eine oft ungeheure Intensität an atmosphärischer Aufheizung erreichen und durchaus meditative Hörwirkungen bis in Bereiche der Trance erschließen wollen.

Die musikalischste Bedeutung Orffs hat allein schon Bleibendes:
Auf Bühnenwerke angewandt bedeuten seine spezifischen Gestaltungstechniken in der Tat nichts Geringeres als die Schaffung eines neuen, bis dahin unerhörten, eigenständigen und unverwechselbaren Musiktheaters. Und doch weist Orffs Weg über die Musik hinaus. Wieland Wagner (1917-1966), Enkel Richard Wagners und bedeutender Bühnenregisseur, charakterisierte das Wesen der Kunst seines Freundes Carl Orff 1965 mit den so schönen und treffenden Worten:
„Orff hat niemals nur Musik machen wollen. Es ging ihm nie um eine musikalische Aussage allein, sondern stets um eine geistige Auseinadersetzung. Er hat sie in den verschiedensten Bereichen gesucht und gefunden, die nur scheinbar weit auseinanderliegen, in Wahrheit aber eng benachbart sind. Wen es erstaunt, daß ein Carl Orff einst Märchenstoffe der Brüder Grimm in Musik setzte, - der gleiche Carl Orff, der heute mit Aischylos un dem Gefesselten Prometheus beschäftigt ist, -
wer sich darüber verwundert, daß der gleiche Carl Orff, der die `Trionfi` schuf, gerade in den letzten Jahren so viel Zeit und Kraft auf sein `Schulwerk`, auf die `Musik für Kinder`verwandte, - der hat Orff nie begriffen. Denn die wahrhaft schöpferische Natur macht keine Sprünge: alles, was Orff schuf und was er immer noch schaffen wird, hat die gleiche Keimzelle, den gleichen Ursprung.“

Und es sei erlaubt, hier  hinzuzufügen: dieser Ursprung liegt im Ur-Mysterium MENSCH begründet, dem sich anzunähern Orffs hoher Lebensinhalt war. – Kein schöneres Lob ist dem großen Humanisten Carl Orff – im Gedenken an die 20. Wiederkehr seines Todestages – als Kranz auf sein Grab zu legen.

 

Altenburg, am 8. Juni 2002, dem                                                                      Dr. Peter Hrncirik
65. Jahrestag der Uraufführung
der Carmina Burana